Wissen
History Points auf dem Areal
Text: Michael van Orsouw, Bilder: Archiv für Zeitgeschichte ETHZ
Die Landis & Gyr benötigte in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg für die Produktion viel Personal – jedenfalls mehr Leute, als der Schweizer Arbeitsmarkt hergab. Deshalb holte die LG viele italienische Arbeiterinnen; diese wohnten an der Baarerstrasse, die daraufhin «Strada della speranza» genannt wurde.
Als die Landis & Gyr im Jahre 1950 die Produktion der Inducta-Spezialuhren in Zug beendete, behielt sie das markante Backsteinfabrikgebäude an der Baarerstrasse 117, die ehemalige Glühlampenfabrik. Der Konzern richtete dort ein Heim für italienische Arbeiterinnen ein. Die Landis & Gyr nutzte die Nachkriegskonjunktur und benötigte Arbeitskräfte. Deshalb warb sie sehr aktiv in Italien für die Arbeitsplätze in der Landis & Gyr: auch mit Busreisen nach Italien und mit eigens dafür hergestellten Broschüren.
Die Arbeiterinnen wohnten hier in der ehemaligen LG-Uhren-Fabrik und arbeiteten jenseits der Geleise in der Zählerfabrik. Das Arbeiterinnenheim bot 280 Frauen Platz. Das Zimmer teilten die Arbeiterinnen jeweils mit zwei bis fünf anderen Frauen. Doch lesen wir den Originaltext des Prospekts für arbeitswillige Frauen aus Italien, der eine italienische Frau in Ich-Form berichten lässt:
Ich arbeite bei der Landis & Gyr. Die Arbeit ist aber nicht das einzige, was uns die Firma bietet. Denn wenn die Arbeitszeit vorbei ist, treffen wir uns alle in komfortablen Räumen wieder, die wohnlich ausgestattet sind. Wir werden von einer Gouvernante und ihren italienischen Assistentinnen aufs Beste betreut, sie erledigen ihre Aufgabe mit so viel Liebe und Hingabe, dass wir uns trotz der Arbeit, dem Heimweh und der Sprachunkenntnis wie eine grosse Familie fühlen. Sie übernehmen auch die Aufgabe, die Arbeitstüchtigkeit zu fördern, die inneren weiblichen Werte hervorzuheben, und gleichzeitig wachen sie darüber, das Teuerste und Kostbarste in uns aufzubewahren, auf ein «Morgen» als zukünftige Ehefrauen und christliche Mütter.
Das ist der O-Ton der 1960er-Jahre. Die Gouvernante wurde unterstützt von Ordensschwestern und war bei den Arbeiterinnen für ihre Strenge gefürchtet. Doch lesen wir im Werbeprospekt weiter, was die Arbeiterin berichtet:
Das Haus, in dem ich wohne, ist gross und geräumig, mein Zimmer Zeuge unzähliger nostalgischer Seufzer, aber auch von Gelächter und Fröhlichkeit… Der grosse lichtdurchflutete Speisesaal bietet für 280 Personen Platz; an einer verdunkelten Wand leuchtet weiss die Leinwand, wo jeweils am Sonntag ein Film gezeigt wird. Was mich aber am meisten fasziniert, ist die kleine Bühne, wo ich schon etliche Male als Hauptakteurin in mehr oder weniger brillanten Komödien oder Tragödien auftreten konnte… mit beachtlichem Erfolg. Beim Mittagessen und am Abend geniesse ich es, mit meinen Kolleginnen am Tisch zu sitzen, um über dieses und jenes zu reden, während wir italienische Speisen essen. Und hier ist die Küche, wo alles funktional (elektrisch) eingerichtet ist, man muss bloss die Schalter drehen. Wir gehen weiter zum Aufenthaltsraum, wo sich einige von uns gerne zurückziehen, um Briefe nach Hause zu schreiben oder um zu nähen und stricken, aber auch um zu lernen und die lokale Sprache zu studieren. Die Musikliebhaberinnen üben indessen am Klavier. In diesem Saal werden auch die Schneide- und Nähkurse abgehalten sowie kulturell-informative Veranstaltungen.
Die Zeilen lassen erahnen, dass die Freizeit klar reglementiert war und auch überwacht. Einen der wenigen Freiräume bot jeweils der Gang zur nahen Guthirt-Kirche, ebenfalls an der Baarerstrasse gelegen. Weil die Italienerinnen gut und attraktiv waren, hielten junge Schweizer an der Baarerstrasse Ausschau nach den Arbeiterinnen. So entstand im Volksmund der Spitzname «Strada della speranza» (Strasse der Hoffnung), weil sich mancher junge Mann Hoffnungen auf eine Beziehung machte.
Damit der Kirchgang und der mögliche Kontakt mit jungen Schweizern minimiert werden konnte, bekamen die Italienerinnen 1961 eine eigene Kapelle im Untergeschoss eines Nebengebäudes des Arbeiterinnenheims. Dazu nochmals die Italienerin in der Werbeschrift:
Die Kapelle ist für uns alle das schönste Geschenk der Firma, die dem Wunsch unserer Seelsorger nachgekommen ist, und diese nachträglich angebaut hat. Jeden Tag wird die Heilige Messe gelesen, die ich und auch viele meiner Kolleginnen immer besuchen. Aber am Sonntag sind alle dabei, wenn die Heilige Messe sowie das Evangelium vom unserem italienischen Missionar gelesen und abgehalten wird. Man singt die Lieder und spricht die Gebete, die in vergangener Zeit in unseren Kirchen daheim gelernt wurden. Unvergessliche und bewegende Momente, wo im Geiste die fernen Gesichter unserer Liebsten, die Heimat und das Geburtsland erscheinen… Nachdem ich Ihnen einen kurzen Einblick in unser Leben in Zug gegeben habe, wende ich mich speziell an die Eltern der Mädchen und versichere Ihnen, dass die Firma alles daransetzt, das familiäre Klima aufrecht zu erhalten und sich stets bemüht, die moralische und katholische Betreuung zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren haben Hunderte von italienischen Mädchen hier gearbeitet und haben wesentlich zur finanziellen Unterstützung daheim beigetragen und sich gleichzeitig auf eine eigene zukünftige Familie vorbereitet.
Man kann es sich gut vorstellen: Was hier etwas schwülstig und auch anrührend dargestellt wird, beinhaltete auch manches tragisches Schicksal mit viel Heimweh und etlichen Tränen. Doch immerhin sind auch etliche dieser Italienerinnen in Zug hängengeblieben, die an der «Strada della speranza» oder in der Fabrik einen Mann kennengelernt und geheiratet haben.
Die Wirtschaftskrise um 1973 setzte dem Arbeiterinnenheim ein Ende. Fortan wurde der markante Backsteinbau von der Zuger Techniker- und Informatikschule ZTI benützt, die darin Techniker, Informatiker und weitere Fachleute aus- und weiterbildete. 1998 kaufte die Immobilienfirma Hammer Retex AG das Areal, renovierte den ursprünglichen Fabrikbau und erstellte zwischen 2007 und 2010 einen ergänzenden Zwischenbau mit Loftwohnungen.