Allgemein
History Points auf dem Areal
Text: Michael van Orsouw
Mitten auf der Landis + Gyr-Strasse steht seit Jahrzehnten ein eindrücklicher Ahornbaum. Heute erzählt er uns seine Geschichte und wie man ihn im Alltag gewinnbringend einsetzen kann.
Ja, gut, es mag aussergewöhnlich erscheinen, dass ein Baum hier seine Geschichte erzählt. Aber findige Wissenschafter haben kürzlich herausgefunden, dass wir Bäume untereinander kommunizieren können. So mag es nicht überraschen, dass wir auch zu Menschen sprechen können – wenn wir wollen. Und heute will ich. Denn ich habe einiges klarzustellen.
Also, sehr verehrte Damen und Herren, liebes Lesepublikum. Seit Jahrzehnten stehe ich auf dem LG-Areal, mindestens seit 1970, folglich seit mehr als 50 Jahren. Als ich gepflanzt wurde, war ich umgeben von Fabriken, täglich strömten Tausende von Menschen an mir vorbei, sie sprachen häufig miteinander von «Elektrizitätszählern» – keine Ahnung, was das ist. Die Leute damals trugen einfache Arbeitskleidung.
Heute dagegen kommen die Menschen, die an mir vorbeigehen, eleganter daher, aber sie sprechen viel weniger miteinander, weil sie sich mit kleinen Kästchen befassen, die sie in einer Hand halten. Ich weiss nicht genau, warum diese Gerätchen so anziehend sind, denn aus Holz sind sie nicht.
Wie auch immer. Mein Standort ist speziell, ich stehe quasi im Weg. Im Norden von mir steht das Backsteingebäude mit der Adresse Zählerweg 3, es stammt von 1951. Trotz der Aufstockung haben meine Äste die Höhe des Gebäudes erreicht. Im Nordwesten überragt mich die Liegenschaft Landis + Gyr-Strasse 1 noch etwas, aber bald habe ich auch diese Höhe erreicht. Nur so nebenbei: Ein Ahorn kann bis zu 30 Metern hoch werden, also kann ich noch einiges zulegen… Im Süden steht der langgezogene Bau Gubelstrasse 26/30; er bewahrt mich seit 2012 vor dem dichten Verkehr auf der Gubelstrasse. Soweit mal zu meinen Nachbarn und meinem direkten Umfeld, das vielleicht auf den ersten Blick nicht als sehr spektakulär erscheinen mag.
Doch auf den zweiten Blick eben schon! Denn ich stehe mitten auf der Landis + Gyr-Strasse. Mehr noch: die Strasse macht einen Bogen um mich herum! Ja, denn eigentlich haben die Architekten und Städteplaner eine direkte Verbindung zwischen dem «Uptown» an der General-Guisan-Strasse 6/8 und den alten LG-Gebäuden an der Dammstrasse 16/18 geschaffen, also zwischen dem markanten Hochhaus und den verkehrstechnisch wichtigen Bahngeleisen. Aber diese Gerade unterbreche ich mit meinem Standort. Der Städtebau amerikanischer Art mit den kerzengeraden Strassenzügen bekommt hier eine kleine visuelle Pause verpasst.
Der Ahorn vermittelt uns Unbeschwertheit und bringt Heiterkeit in das Zuhause. Schwere Stunden und trübe Gedanken lockt er geschickt fort. (…) Er lehrt uns, den Alltag unbeschwerter und mit offenem Blick für das Schöne zu geniessen und sich des Lebens zu erfreuen.
Bernhard Heim, Holzspezialist
Mit meiner Ausdehnung von 20 Metern in der Breite und 10 Metern in der Höhe sorge ich für einen willkommenen Unterbruch. Vielleicht haben Sie schon davon gehört: Wir Ahornbäume – oder Ahörner, wie wir uns scherzeshalber nennen – gelten auch als «Bäume der Besinnung». Früher sind die Menschen immer wieder, aber vor allem am 24. Juni zu mir gekommen. Sie haben etwas von «Johannistag» gesprochen und einen Ast oder auch zwei abgebrochen. Autsch, das tat weh! Aber es soll geholfen haben: Die Leute steckten meine Äste an Türen und Fenster, weil sie auf diese Weise düstere Gedanken verjagen konnten. Auch der Blitz sollte so ferngehalten werden. Manchmal kamen die Menschen zu mir, um die Stirn mit meinem Blattwerk zu bestreichen – das soll die Kopfschmerzen verjagt haben. Sogar Hexen konnte ich mit meinen Ästen fernhalten und insbesondere auch deren Hexerei. Doch heute ist dieses Wissen in Vergessenheit geraten.
Darf ich deshalb eine berufene Stimme zur Wirkung von uns Ahornbäumen zitieren? Nämlich den Holzspezialisten Bernhard Heim: «Der Ahorn vermittelt uns Unbeschwertheit und bringt Heiterkeit in das Zuhause. Schwere Stunden und trübe Gedanken lockt er geschickt fort. (…) Er lehrt uns, den Alltag unbeschwerter und mit offenem Blick für das Schöne zu geniessen und sich des Lebens zu erfreuen.»
Das gefällt mir wirklich: Ich wirke mit meinen mächtigen vier Hauptästen als Heiterkeitsspender der gestressten Menschen. Der Staat Kanada weiss offenbar um die Wirkung von uns Ahornbäumen: unsere Blätter zieren sogar seine Nationalflagge. Falls es in Kanada windet, flattern wir also gleich doppelt: an den Bäumen und auf den Fahnen.
Deshalb sei Ihnen von einem alten Baum auf den Weg gegeben: Wenn Sie das nächste Mal an mir vorbeilaufen, bitte ich Sie kurz um Ihre Aufmerksamkeit. Legen Sie Ihr handliches Gerät kurz zur Seite und schauen Sie in meine Baumkrone – Sie werden die königliche Wirkung meiner Ausstrahlung schon nach wenigen Sekunden erfahren.
Und Sie werden realisieren, dass ich nicht im Weg stehe. Sondern am Weg liege. Für Sie und alle anderen.